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29.01.2024

OB René Wilke am 27.01.2024 auf der Demonstration "Nie wieder ist jetzt" in Frankfurt (Oder)

Liebe Frankfurterinnen und Frankfurter, liebe Freundinnen und Freunde unserer Stadt, liebe Menschen aller Herkünfte, verschiedener Meinungen und Bekenntnisse, schön, dass wir heute hier sind!

Heute ist der 27. Januar 2024: der Gedenktag für die Befreiung von Ausschwitz. Am heutigen Abend findet wie jedes Jahr eine Gedenkveranstaltung statt. Eine Veranstaltung, bei der ich in den vergangenen Jahren erlebt habe, wie die Bestuhlung immer weiter reduziert wurde – damit es nicht so leer aussieht.

Ich glaube das war so, weil es für selbstverständlich gehalten wurde. Und das kann ich irgendwie verstehen.

Heute stehen wir hier für etwas ein, das ebenfalls lange für selbstverständlich gehalten wurde. Etwas, was vielen von uns zu banal und selbstverständlich erschien, es wieder und wieder auszusprechen.

Wir stehen dafür, dass wir unterschiedliche Standpunkte nicht nur ertragen, sondern wollen müssen. Dafür – um es mit den Worten der Handwerkskammer zu sagen – dass uns egal ist, wo du herkommst; dass uns wichtig ist, wo du hinwillst.

Wir stehen für demokratische Werte und unveräußerliche Rechte, für die unantastbare Würde des Menschen. Und wir stehen hier für unser Grundgesetz, das so klug und schützenswert ist.

Wir stehen hier – und das ist die größte Stärke dieser Demonstration – nicht für irgendeine Regierung oder politische Entscheidungen, sondern als Menschen mit ganz unterschiedlichen politischen Auffassungen, Lebensentwürfen, Glaubensrichtungen und Herkünften. Weil wir eines zum Ausdruck bringen wollen: Wir dulden einander nicht nur. Wir wollen einander. Wir wollen eine vielfältige und keine einförmige Gesellschaft. Wir wollen die Geschicke unserer Gesellschaft und unseres Landes zwar im harten Ringen, aber auch im unbedingten Miteinander und nicht im Gegeneinander gestalten.

Wir stehen hier, weil auch wir besorgte Bürgerinnen und Bürger sind.

Wir sorgen uns, weil sich der Diskurs in unserem Land in eine erschreckende Richtung entwickelt. Weil sich die Auseinandersetzung über wichtige gesellschaftliche und politische Fragen Stück für Stück wegbewegt von einer inhaltlichen Auseinandersetzung hin zu Abgrenzung und Ausgrenzung, zu einer von Hass und Angst getriebenen Spirale erst gedanklicher, dann verbaler und tatsächlicher Gewalt. Aus den Echokammern der sozialen Medien sind Ideen und Haltungen immer weiter in unsere Gesellschaft vorgedrungen.

Die Lautstärke und die Aggressivität, mit der extremes Gedankengut zuletzt vorgedrungen ist, hat einen Punkt erreicht, an dem die Angst vor Repression im Netz und in der Realität, viele Menschen hat verstummen lassen. Denn das Gefühl, das viele von uns sicherlich hatten, so alleine gegen so viel Hass und Dummheit zu stehen, kroch immer mehr von uns immer tiefer unter die Haut. Es fühlt sich an wie die unangenehme, nasse Kälte mancher Wintertage, die einem keine Chance zum Aufwärmen gibt.

Menschen als unterschiedlich viel wert zu betrachten, ihnen den Anspruch auf Würde und eine eigene Meinung abzusprechen, ihnen pauschal kriminelle Absichten zu unterstellen; kurz: sie für minderwertig zu erklären, das war vor gar nicht langer Zeit noch absolut undenkbar in Deutschland. Heute ist dieses Denken so weit vorgedrungen, dass manche es inzwischen für mehrheitsfähig hielten. Und wenn wir hier kein großes deutliches, ja, unüberseh- und unüberwindbares Stoppschild aufbauen, dann könnten sie künftig sogar Recht damit haben.

Und deshalb glaube ich auch nicht, dass es vorrangig um die aktuelle Recherche geht. Ich denke vielmehr, dass hier ein Fass zum Überlaufen gebracht wurde, das schon vorher für viele von uns randvoll war.

Und wie gut tut es, heute hier und an so vielen anderen Stellen im Land zu sehen und zu erleben, dass wir eben nicht alleine gegen so viel Hass stehen. Dass wir viele sind. Dass manche zum ersten Mal überhaupt auf einer Demonstration sind.

Und dass wir nicht mehr tatenlos zusehen wollen und werden, wie die Art wie wir Zusammenleben wollen, das Fundament dessen, was wir an unserem Leben mögen, so sehr infrage gestellt wird.

Und dass dieses Leben nicht perfekt und einfach ist, sondern immer wieder und immer mehr Erschütterungen ausgesetzt ist, dass wissen wir hier in Frankfurt (Oder) sehr genau.

Wir wissen, dass all das auf und ab und wieder auf, all der Wandel, der Verlust von Arbeit und Selbstwert nach der Wende tiefe Wunden hinterlassen hat.

Wir wissen, dass das einstige Zukunftsversprechen, von der guten Schulnote zur soliden Ausbildung, zum Haus und Familie mit zwei Autos und drei Mal Urlaub im Jahr und ständigem Wirtschaftswachstum so nicht mehr gilt. Dass Zukunftszuversicht einer Zukunftssorge, ja, sogar Zukunftsangst in einer Welt mit nahen Kriegen, Klimakrise, neuen Machtblöcken in der Welt gewichen ist. 

Und wir spüren auch, dass all die Umbrüche und ständigen Veränderungen für Verunsicherung, Überforderung und den Rückzug ins halbwegs Überschaubare sorgen. Dass es eine Sehnsucht nach Verstehen und Verstanden-werden gibt. Nach Antworten, die endlich Ordnung in eine so unordentliche Welt bringen. Eine Sehnsucht nach eigener Auf- und leider viel zu oft anderer Abwertung. Nach Selbstwert und vor allem danach, dass es verdammt noch mal alles einfach mal so bleibt wie es ist, wie man es kennt und sich gerade erst eingerichtet hat.

Die schmerzhafte Wahrheit aber ist: Der Wandel wird nicht aufhören. Die Krisen verschwinden nicht von selbst. Und die Komplexität wird nicht geringer werden.

Und genau deshalb finde ich es so wichtig, dass es bei all dem ein gemeinsames Fundament gibt. Gesellschaftliche Grundregeln auf die wir uns vereinbaren und verlassen können. Die wir verteidigen und die uns Sicherheit geben in einer so verunsichernden Welt. Ohne Wenn und Aber.

Und die gibt es:

Wir sind verschiedener Auffassungen und Hintergründe, gehören unterschiedlichen oder keinen politischen Lagern an, lieben unterschiedlich und glauben nicht an dasselbe. Wir haben keineswegs dieselben Vorstellungen davon, wie ein gelungenes Leben abläuft.

Aber wir haben eine riesige Gemeinsamkeit: Wir akzeptieren einander, haben Respekt vor anderen Menschen und Ansichten, sehen im Diskurs immer auch eine Möglichkeit zur Bereicherung unseres Denkens, hören uns gegenseitig zu und gewinnen durch unser unerschütterliches, grundsätzliches Miteinander.

Wir wollen für uns, für unsere Kinder und Kindeskinder und alle späteren Generationen eine Welt ermöglichen, in der auch bei Weitem nicht alles perfekt sein wird, aber wo sie in Freiheit, gesellschaftlichem Frieden, mit funktionierenden Institutionen und unveräußerlichen Werten ihr Leben selbstbestimmt gestalten und mit anderen um den richtigen Weg ringen können. Wenn es sein muss, auch hart und energisch. So wie wir es heute tun.

Dazu gibt es Alternativen. Aber bis dato keine, die mich überzeugt haben.

Das und noch viel mehr drücken auch Sie aus, indem Sie heute hier sind. Und dafür danke ich Ihnen von Herzen.

Und es gibt – bei allen Irrungen und Wirkungen – auch so viel Grund für Zuversicht:

Gerade unsere Stadt, unser Frankfurt (Oder) zeigt doch, was Menschen an Höhen und Tiefen erleben können und wie man daraus mit neuen Fähigkeiten, mit Resilienz, mit neuer Kraft und neuem Mut hervorgehen kann. Wie es gelingen kann, immer wieder kleine und große Aufbrüche zu schaffen und wie aus der Sorge vor denen da drüben erst Nachbarn, dann Freunde und nun eine europäische Doppelstadt gewachsen ist. Wir haben gezeigt, dass auch schmerzhafte Erfahrungen des Wandels das Beste im Menschen hervorbringen können. Mir macht das Mut. Mir macht unser Frankfurt Mut.

Und ich wünschte mir, dass noch mehr sich selbst mit mehr Achtung sehen könnten. So wie ich sie sehe.

Liebe Demonstrierende,

unsere Stadt gehört allen Menschen, die hier leben und sich friedlich einbringen.

Ich höre und lese in den vergangenen Tagen immer wieder, dass Menschen mit anderen Wurzeln verängstigt und verunsichert sind. Dass sie sich fragen, ob sie hier noch hingehören und gewollt sind. Ob sie hierbleiben wollen. Dass sie sich alleine und an den Rand gestellt fühlen.

Genau damit wurde schon ein Teil dessen erreicht, was leider erreicht werden sollte.

Und deshalb sage ich Ihnen und Euch heute: Es sind unsere Familien, unsere Freundinnen und Freunde, unsere Nachbarinnen und Nachbarn, unsere geschätzten Kolleginnen und Kollegen – kurzum: Es sind Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt, um die es hier auch geht und die derzeit verängstigt sind. Das akzeptieren wir nicht und stehen heute und hier auch für genau diese Menschen. Ihr seid uns wichtig. Und ich möchte Euch, die ihr verständliche Ängste habt, heute auch sagen: Lasst nicht zu, dass die extremen Brandstifter Macht über Eure Gefühle und Eure Gedanken gewinnen. Wir sind mehr! Wir stehen hier für Euch, für uns.

Das Motto dieser Demonstration lautet „Nie wieder ist jetzt“. Sehen Sie es mir nach, wenn ich darauf hinweise, dass „nie wieder“ auch morgen und übermorgen sein muss. Machen wir uns stark im Job, in der Familie, im Freundes- und Bekanntenkreis und auch bei den kommenden Wahlen im Juni und Herbst. Für ein Leben im Miteinander, ein Handeln im Füreinander, eine Verweigerung des Gegeneinanders.

Denn nur wenn es uns gelingt, durch persönliches Beispiel zu zeigen, dass unser größter Reichtum in der Fähigkeit zur Kooperation und Mitgefühl liegt, werden wir Menschen zurückgewinnen können, die derzeit tief verstrickt sind in Lüge, emotionale Kälte, Angst und Hass. Und ich bitte Sie und Euch darum, dass wir es uns nicht so einfach machen und sagen: Wir sind mehr und das ist uns genug.

Liebe Demonstrierende,

heute bin ich besonders froh, Oberbürgermeister dieser großartigen Stadt sein zu dürfen. Denn eine Stadt, das ist letztlich die Summe ihrer Menschen. Die Menschen, die ich heute hier sehe und noch sehr viele mehr, die repräsentieren eine Stadt, für die ich gern jeden Tag daran arbeite, sie als lebendiges Gemeinwesen mit Ihnen zu gestalten und voranzubringen. Sie können stolz auf sich sein. Ich bin stolz auf Sie.